Der Tatort war das Pfarrhaus des Dorfes Sorsum. Jens Windel beschuldigt einen verstorbenen katholischen Pfarrer, ihn im Alter von neun bis elf Jahren immer wieder sexuell missbraucht zu haben. Die etwa 30 Übergriffe sollen sich gesteigert haben bis hin zu Vergewaltigungen, sagt der Vorsitzende Richter Jan-Michael Seidel im Landgericht Hildesheim. Der heute 50-jährige Windel klagt im Zuge der Amtshaftung gegen das Bistum Hildesheim auf mindestens 400.000 Euro Schmerzensgeld.
Der Geistliche war sein Religionslehrer in der Grundschule und habe ihn als Messdiener angeworben. Der Pfarrer war laut Windel ein Serientäter, inzwischen hätten sich 18 Betroffene gemeldet.
Anspannung ist dem Kläger anzusehen
Vor dem Prozessstart ist Windel die Anspannung anzusehen. Seine Augen sind feucht, er umklammert seinen Stuhl, ist begleitet von drei Rechtsanwälten. Schon nach rund einer Stunde ist die mündliche Verhandlung vorbei. Der Kläger Windel und das beklagte Bistum Hildesheim sollen mit Hilfe eines Güterichters des Landgerichts eine Einigung finden.
Diesem Vorschlag der Zivilkammer stimmen sowohl Windel als auch der Rechtsanwalt und die Justiziarin des Bistums Hildesheim zu - nach Rücksprache mit dem Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer. Sollte die gütliche Einigung scheitern, werde der jetzt unterbrochene Zivilprozess fortgesetzt, sagt der Vorsitzende Richter.
Im Juni 2023 hatte das Kölner Landgericht dem Missbrauchsopfer eines Priesters 300.000 Schmerzensgeld zugesprochen. Das Urteil war die bundesweit erste Gerichtsentscheidung dieser Art. Windel klagt als erster Missbrauchsbetroffener gegen die katholische Kirche in Niedersachsen.
Bisher 50.000 Euro als freiwillige Zahlungen
Der Kläger erhielt von der katholischen Kirche in vier Schritten bislang 50.000 Euro als freiwillige Zahlung. «Die bisherigen Summen bagatellisieren mein Erlebtes», sagt Windel der dpa. Er habe den Prozess nicht gewollt, doch eine außergerichtliche Einigung lehnte das Bistum ab, es will Rechtssicherheit.
Die Kirche beantragte die Abweisung der Klage und führte unter anderem an, dass die Taten verjährt seien. In Bezug auf die Verjährung folgt das Gericht der Argumentation der Kirche. Dies wird im Vortrag des Vorsitzenden Richters deutlich. Seidel zufolge hätte Windel nach aktueller Gesetzeslage spätestens 2015 seine Schmerzensgeld-Ansprüche gerichtlich geltend machen müssen, zwei Jahre nachdem ihm die Taten wieder bewusst geworden waren.
Windel hatte die Übergriffe jahrzehntelang verdrängt, nach einem Unfall 2013 kamen sie als Flashbacks zurück. Der 50-Jährige leidet unter anderem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen. «Mir geht es sehr schlecht», sagt Windel nach der Verhandlung.
Gericht: Einigung könnte genugtuende Wirkung haben
Die Taten dürften verjährt sein, sagt der Richter. Eine in einer Güteverhandlung vereinbarte Schmerzensgeld-Zahlung könne aber eine genugtuende Wirkung für den Kläger haben, auch wenn dadurch das erlittene Leid nicht kompensiert werde.
Vor dem Landgericht Hildesheim protestieren unterdessen Missbrauchsbetroffene gegen die Haltung des Bistums Hildesheim. Sie verlangen, dass alle Bistümer und Ordensgemeinschaften in Deutschland in Zivilprozessen von Missbrauchsopfern auf die sogenannte Einrede der Verjährung verzichten.
Ein Sprecher des Bistums Hildesheim sagt nach der Verhandlung, dass das Landgericht die Position des Bistums Hildesheim hinsichtlich der Verjährung gestützt habe. Dem Vorschlag, in eine Mediation zu gehen, folge das Bistum gerne. «Es bleibt abzuwarten, wie die Parteien sich dann zueinander verhalten.» Ein zeitlicher Rahmen für die Güteverhandlung ist laut einem Gerichtssprecher noch nicht absehbar.
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