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Neue Grundsicherung statt Bürgergeld – Sozialstaat oder Rückschritt in alte Zeiten?

Symbolbild Arbeitsmarkt / pixabay Frank_Rietsch
Symbolbild Arbeitsmarkt / pixabay Frank_Rietsch

Erfahre, warum der CDU-Plan zur Neuen Grundsicherung mit Sanktionen statt individueller Förderung arbeitet und welche Folgen das für unseren Sozialstaat hat – oder wie siehst du das?

Der kürzlich erschienene Artikel trägt den Titel „Neue Grundsicherung statt Bürgergeld: Ein Sozialstaat, der wirklich hilft“ – eine Überschrift, die sofort den Eindruck eines modernen, effizienten Sozialstaates erweckt. Doch ein genauerer Blick enthüllt, dass hinter diesem vermeintlichen Fortschritt ein Konzept steckt, das auf altbewährte, aber vielfach gescheiterte Strategien setzt. Während der Artikel eine Transformation verspricht, die Menschen zur Arbeitsaufnahme motiviert und den Staat von unnötiger Bürokratie befreit, bleiben grundlegende Fragen offen: Wer profitiert wirklich von einem System, das auf strikte Sanktionen und den Ausschluss sogenannter „Totalverweigerer“ setzt? Und wie lässt sich gewährleisten, dass diejenigen, die in prekären Lebenssituationen bereits am meisten Unterstützung benötigen, nicht weiter an den Rand gedrängt werden?

Der CDU-Entwurf: Fakten statt Märchen

Die CDU präsentiert ihre „Neue Grundsicherung“ als mutigen Neuanfang. Kernelemente sind dabei:

  • Umbenennung: Das Bürgergeld wird in „Neue Grundsicherung“ umbenannt – ein kosmetischer Wechsel, der vor allem der ideologischen Umdeutung dient.
  • Verschärfte Sanktionen: Schneller, unbürokratischer und strenger sollen Sanktionen greifen – insbesondere gegen sogenannte „Totalverweigerer“, also Arbeitsfähige, die ohne sachlichen Grund zumutbare Arbeit ablehnen.
  • Strengere Mitwirkungspflichten: Mehrmaliges unentschuldigtes Fernbleiben von Beratungsterminen soll zu Leistungseinstellungen führen.
  • Wegfall der Vermögensprüfungskarenzzeit: Statt einer zwölfmonatigen Karenzzeit wird das Vermögen sofort in die Berechnung einbezogen.
  • Fördern und Fordern: Durch Anpassungen bei Hinzuverdienstgrenzen und Transferentzugsraten soll ein stärkerer Anreiz zur Arbeitsaufnahme geschaffen werden.
  • Mehrfachleistungen vermeiden & Datenaustausch: Leistungen sollen künftig „aus einer Hand“ fließen und ein umfassender Datenaustausch zwischen den Behörden den Missbrauch verhindern.

Arbeitsverweigerung – Mythos oder Realität?

Die Behauptung, das bisherige Bürgergeld würde massenhaft zur Arbeitsverweigerung führen, ist schlichtweg haltlos. Statistiken belegen, dass weniger als 1 % der Empfänger als „Totalverweigerer“ gelten. Die überwiegende Mehrheit der Bürgergeldbeziehenden arbeitet, kümmert sich um Kinder, bildet sich weiter oder sucht aktiv nach einer Beschäftigung. Mit dieser Datenlage wird das Konzept der „Totalverweigerer“ als zentrales Element der neuen Politik zum politisch motivierten Stereotypenbau degradiert – eine bequeme Erfindung, um von strukturellen Missständen abzulenken.

Faktenschleuder Teil 1 - Totalverweiger

Basierend auf den aktuellsten verfügbaren Daten aus dem Jahr 2023 ist die Zahl der sogenannten "Totalverweigerer" beim Bürgergeld sehr gering:

  • Absolute Zahl: In den ersten elf Monaten des Jahres 2023 gab es 13.838 Fälle, in denen Menschen weniger Bürgergeld erhielten, weil sie eine Arbeit, Ausbildung, Weiterbildung, Qualifikation oder eine Maßnahme der Agentur nicht aufnehmen oder fortsetzen wollten.
  • Prozentualer Anteil: Von den 1,6 Millionen arbeitsfähigen Bürgergeld-Empfängern machten die "Totalverweigerer" nur etwa 0,86% aus.
  • Gesamtkontext: Im gleichen Zeitraum wurden insgesamt etwa 180.000 Menschen sanktioniert, wobei etwa 80% dieser Sanktionen auf Meldeversäumnisse zurückzuführen waren, nicht auf Arbeitsverweigerung.
  • Jahreshochrechnung: Wenn man die Daten auf das gesamte Jahr 2023 hochrechnet, kommt man auf eine geschätzte Zahl von etwa 17.000 "Totalverweigerern".

Es ist wichtig zu beachten, dass diese Zahlen deutlich niedriger sind als oft in der öffentlichen Debatte angenommen wird. Die überwiegende Mehrheit der Bürgergeld-Empfänger (über 99%) fällt nicht in die Kategorie der "Totalverweigerer".

Quellen:

  1. https://www.wiwo.de/politik/deutschland/streit-ums-buergergeld-streit-ums-buergergeld-wie-gross-ist-das-problem-totalverweigerer-wirklich/29714478.html
  2. https://www.fr.de/verbraucher/statistik-zeigt-zahl-totalverweigerer-empfaenger-buergergeld-aktuelle-zr-92901745.html
  3. https://www.focus.de/finanzen/so-viele-buergergeld-empfaenger-wollen-offenbar-nicht-arbeiten_79c1bde6-f630-4911-b793-c7a7fcbaeb07.html
  4. https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100458194/buergergeld-debatte-wie-viele-totalverweigerer-gibt-es-wirklich-.html

Faktenschleuder Teil 2 - Bürgergeldempfänger

Die 99% der Bürgergeldempfänger, die nicht als "Totalverweigerer" gelten, setzen sich wie folgt zusammen:

  • Erwerbstätige Aufstocker: Etwa 800.000 Menschen (20% der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten) arbeiten bereits, verdienen aber zu wenig, um ihren Lebensunterhalt vollständig zu decken.
  • Nicht verfügbare Leistungsberechtigte: Rund 1,6 Millionen Menschen (40% der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten) stehen dem Arbeitsmarkt aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung, wie:
    • Personen in Ausbildung oder Studium
    • Menschen mit Kinderbetreuungspflichten
    • Personen, die an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen
  • Arbeitssuchende: Etwa 1,6 Millionen Menschen (40% der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten) stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung und suchen aktiv nach Arbeit.
  • Nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte: Rund 1,6 Millionen Menschen können aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten, darunter:
    • Kinder unter 15 Jahren
    • Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen
  • Ältere Menschen: Etwa 13,5% der Bürgergeldempfänger sind 55 Jahre und älter.


Diese Zusammensetzung zeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Bürgergeldempfänger entweder bereits arbeitet, aus nachvollziehbaren Gründen nicht arbeiten kann oder aktiv nach Arbeit sucht.

Quellen:

  1. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Mindestsicherung/aktuell-mindestsicherung.html
  2. https://www.fr.de/verbraucher/statistik-zeigt-zahl-totalverweigerer-empfaenger-buergergeld-aktuelle-zr-92901745.html
  3. https://www.suedkurier.de/ueberregional/wirtschaft/geld-finanzen/buergergeld-statistik-wer-bezieht-es-17-2-25;art1373668,11757767
  4. https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/202307/iiia7/grusi-in-zahlen/grusi-in-zahlen-d-0-202307-pdf.pdf?__blob=publicationFile
  5. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/666690/umfrage/leistungsempfaenger-von-arbeitslosengeld-ii-im-monat-in-deutschland/
  6. https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Sozialstaat/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIII58.pdf

Alte Wein in neuen Schläuchen?

Die Neue Grundsicherung präsentiert sich als innovativer Ansatz – tatsächlich handelt es sich aber um eine Wiederbelebung altbekannter, oft gescheiterter Strategien. Verschärfte Sanktionen und rigorose Mitwirkungspflichten sind keine universellen Lösungen, sondern bergen erhebliche Risiken:

  • Sanktionen als Strafe: Anstatt Menschen in prekären Lebenslagen zu unterstützen, drohen harte Sanktionen, die im schlimmsten Fall zu existenzieller Not, Obdachlosigkeit oder gar psychischen Belastungen führen.
  • Fehlende Differenzierung: Pauschale Maßnahmen lassen wenig Raum für individuelle Lebenssituationen. Wer aus gesundheitlichen, familiären oder strukturellen Gründen nicht uneingeschränkt arbeiten kann, wird unverhältnismäßig hart getroffen.
  • Verlust des Sozialen Schutzes: Ein Sozialstaat muss existenzsichernd wirken. Der Entzug von Leistungen, wie er hier angedacht wird, riskiert, gerade die vulnerablen Gruppen noch weiter in Armut und Ausgrenzung zu treiben.

Rechtslage Grundsicherung: Zwischen Menschenwürde und Gerichtsurteilen

Die aktuelle Rechtslage zur Grundsicherung ist komplex und wurde in den letzten Jahren mehrfach angepasst. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 5. November 2019 zentrale verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Grundsicherungsleistungen festgelegt. Demnach muss einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz gesichert werden, wobei die Menschenwürde allen zusteht und nicht durch vermeintlich "unwürdiges" Verhalten verloren geht. Diese Vorgaben setzen der von der CDU vorgeschlagenen "Neuen Grundsicherung" klare Grenzen. Insbesondere die geplanten verschärften Sanktionen und der Leistungsentzug für sogenannte "Totalverweigerer" könnten verfassungsrechtlich problematisch sein, da sie möglicherweise das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gefährden. Die Debatte um die verfassungskonforme Ausgestaltung der Grundsicherung bleibt somit hochaktuell und wird vermutlich auch zukünftige Reformvorschläge prägen.

Quellen:

  1. https://www.bundestag.de/resource/blob/668146/69d8f99fa017d7dbd3b3f95f1ec42b31/BverfG-Sanktionen-ALG-II-data.pdf
  2. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html
  3. https://www.dbb.de/artikel/grundsicherung-fuer-arbeitsuchende-sanktionen-teilweise-verfassungswidrig.html
  4. https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Pressemitteilungen/2019/bundesverfassungsgericht-sgb2.html
  5. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/12/lk20191204_1bvl000416.html

Sozialstaat statt Sanktionensystem

Ein Sozialstaat, der wirklich hilft, kann nicht auf Misstrauen und Strafe basieren. Es braucht einen Paradigmenwechsel:

  • Individuelle Förderung statt pauschaler Sanktionen: Jeder Mensch hat unterschiedliche Voraussetzungen. Anstatt starr Sanktionen zu verhängen, sollten individuelle Betreuung und passgenaue Fördermaßnahmen im Vordergrund stehen.
  • Schutz der Menschenwürde: Das Grundgesetz verpflichtet uns, ein existenzsicherndes Mindestmaß zu garantieren. Strengere Sanktionen dürfen nicht dazu führen, dass Menschen in existenzielle Not geraten.
  • Investitionen in Bildung und Qualifizierung: Viele Menschen kämpfen trotz Arbeitswilligkeit mit strukturellen Hürden wie fehlender Ausbildung oder mangelnder Kinderbetreuung. Hier sind staatliche Investitionen in Bildung, Weiterbildung und familienfreundliche Angebote dringend notwendig.
  • Faire Arbeitsbedingungen: Letztlich muss der Arbeitsmarkt so gestaltet werden, dass faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen den Menschen ein Leben in Würde ermöglichen – statt sie mit unflexiblen Sanktionen zu bestrafen.

Sozialstaat im Umbruch – Fortschritt oder Rückschritt?

Die CDU präsentiert die „Neue Grundsicherung“ als innovativen Schritt, der den Arbeitsanreiz stärken und den Sozialstaat entlasten soll. Hinter diesem Konzept verbergen sich jedoch vor allem altbekannte Mechanismen: strenge Sanktionen, pauschale Ausschlusskriterien und ein System, das auf Kontrolle statt individueller Förderung setzt. Ein solcher Ansatz läuft Gefahr, Menschen in prekären Lebenslagen weiter zu destabilisieren – statt sie nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Ein moderner Sozialstaat muss mehr bieten als rigide Sanktionen und bürokratischen Druck. Er sollte Menschen befähigen, unterstützen und echte Chancen eröffnen – durch maßgeschneiderte Förderung, den Ausbau von Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen und vor allem durch faire Arbeitsbedingungen, die ein Leben in Würde ermöglichen.

Mit der Bundestagswahl am 23. Februar steht die Frage im Raum: Wollen wir einen Sozialstaat, der den Menschen wirklich hilft, oder einen, der auf Misstrauen und pauschale Strafen setzt? Oder wie siehst du das?