Der erste Schuss trifft auf den rechten Vorderreifen, dann richtet sich die Waffe auf den Fahrer des Geldtransporters. «Ich habe wirklich direkt in ein Mündungsloch geguckt», erinnert sich der Mann vor Gericht an den Überfall im Juni 2015 in Stuhr nahe Bremen. «Ich habe nur gebetet, dass die Scheiben die Kugeln abhalten.»
Gericht beginnt mit der Rekonstruktion der Taten
Fast zehn Jahre später sieht der 63-Jährige eine mutmaßliche Täterin im Staatsschutzsaal Celle wieder. Die ehemalige RAF-Terroristin Daniela Klette soll mit ihren Komplizen Burkhard Garweg (56) und Ernst-Volker Staub (70) Geldtransporter und Supermärkte in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein überfallen haben. Laut Anklage erbeuteten sie mehr als 2,7 Millionen Euro für ihr Leben im Untergrund.
Am dritten Prozesstag beginnt das Landgericht Verden mit der Beweisaufnahme: Alle 13 Überfälle müssen aufwendig rekonstruiert, unzählige Zeugen dazu befragt und Spuren begutachtet werden. Das Gericht befasst sich als Erstes mit dem Überfall in Stuhr, die Staatsanwaltschaft wertet die Tat als versuchten Mord.
Drei Vermummte überfallen Geldtransporter in Stuhr
Für den Fahrer des Geldtransporters und seinen Kollegen war der 6. Juni 2015 ein ganz normaler Arbeitstag, so schildert er es vor Gericht. Nach dem Stopp beim Supermarkt in Stuhr haben sie Feierabend. Als die beiden losfahren wollen, fährt ein weißer Transporter rückwärts gegen eine Wand des Supermarkts und versperrt den Weg. «Ich habe noch zu meinem Kollegen gesagt: Was ist das für ein Idiot, findet der den Vorwärtsgang nicht», sagt der Zeuge.
Fünf, vielleicht zehn Sekunden später richten drei Vermummte ihre Waffen auf den Geldtransporter, wie der Mann vor Gericht weiter aussagt. Darunter soll auch Daniela Klette gewesen sein, einige Meter entfernt mit einer täuschend echt aussehenden Panzerfaust auf der rechten Schulter.
Fahrer in Todesangst - «Ich möchte das nicht noch mal erleben»
Ein Täter - vermutlich der Ex-RAF-Terrorist Burkhard Garweg - habe auf den Reifen geschossen. Dann habe er seine Maschinenpistole an die Scheibe auf der Beifahrerseite gehalten, schildert der Zeuge. «Kollega, raus!», soll der Maskierte immer wieder gerufen haben. Der Fahrer des Geldtransporters lässt seinen Kollegen stattdessen in den Laderaum flüchten und öffnet für einen Moment die Tür - dadurch löst er einen Alarm aus und verriegelt gleichzeitig das Fahrzeug.
Wieder fallen Schüsse, laut Anklage dringt eine Kugel in die Fahrerkabine ein und bleibt in der Lehne stecken. Ob er in dem Moment Todesangst gehabt hatte, will der Richter von dem Fahrer des Geldtransporters wissen. «Ja», sagt der Zeuge nur. «Ich möchte das nicht noch mal erleben.» Mit rund 1,1 Millionen Euro war der Transporter beladen, am Ende ziehen die drei Täter ohne Beute ab.
Nach dem Überfall habe er erst einmal funktioniert, berichtet der Mann. Sechs Tage später änderte sich für ihn alles. «Da machte sich ein ziemlich tiefes Loch auf», sagt der 63-Jährige. Die Ungewissheit sei für ihn schwer zu ertragen gewesen. «Ich wusste nicht, wer mich überfallen hat. Ich hatte keine Gesichter.»
Verteidigung fordert Aussetzung des Verfahrens
Das ändert sich mit dem Prozess am Landgericht Verden. Daniela Klette - wieder im schwarzen Pullover, die weißen Haare zum Knoten im Nacken gebunden - blickt dem Nebenkläger direkt in die Augen. Sie hört seinen Schilderungen aufmerksam zu, ohne große Regung zu zeigen.
Wenn es nach ihren Anwälten geht, soll das Verfahren ausgesetzt werden. Die Verteidigung möchte die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zu Klettes Rolle bei RAF-Anschlägen in den Jahren 1990 bis 1993 abwarten. Außerdem beantragt die Verteidigung, Einsicht in die bisherigen Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zu bekommen und den Haftbefehl gegen Daniela Klette aufzuheben.
Der Fahrer des Geldtransporters hingegen hofft, dass der Prozess bald endet und er endlich mit dem Überfall abschließen kann. Nach der Tat sei er 15 Monate in psychologischer Behandlung gewesen, erzählt der 63-Jährige. Das Gerichtsverfahren habe wieder alles aufgewühlt. «Teilweise wache ich nachts auf, bin schweißgebadet. Mein Blutdruck ist viel zu hoch.» Doch er wolle sich nicht unterkriegen lassen, schon seit Jahren sitzt er wieder am Steuer eines Geldtransporters. «Die haben mich nicht kleingekriegt», betont der Zeuge.
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